QUELLE:
https://www.welt.de

LINK ZUM ORIGINALBEITRAG:
https://www.welt.de/wirtschaft/article228826255/E-Commerce-Da-wird-immer-nur-an-das-Feindbild-Amazon-gedacht.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

„Totengräber” der Innenstädte? – das falsche Feindbild vom bösen Onlinehandel

Von Carsten Dierig
Wirtschaftskorrespondent

Die Wahrnehmung des Internethandels in Deutschland unterscheidet sich vielfach von dessen tatsächlicher Bedeutung. Nun räumt eine Studie mit dem oft schlechten Image der Branche auf. Vor allem ein Zweig wird in seiner Bedeutung unterschätzt.

Fast 27 Jahre ist es her, dass Phil Brandenberger das Zeitalter des Onlinehandels eingeläutet hat. Damals, im August 1994, kaufte und bezahlte der US-Amerikaner die CD „Ten Summoners‘ Tales“ des britischen Musikers Sting in einem Internetshop.

In der Fachwelt jedenfalls gilt dieses Geschäft als erster dokumentierter Verkauf, der tatsächlich von der Bestellung bis hin zur verschlüsselten Kreditkartenzahlung online abgewickelt wurde.

Eingekauft hatte Brandenberger seinerzeit über den amerikanischen Internetmarktplatz Netmarket. Den gibt es auch heute noch, wenngleich der Eigentümer mehrfach gewechselt hat. Die Sting-CD indes lässt sich über Netmarket derzeit nicht mehr bestellen.

Dafür aber gibt es jede Menge andere Händler im Netz, auf die Sting-Fans und auch alle anderen Musikliebhaber bei Bedarf zugreifen können. Denn E-Commerce ist heute längst eine grundlegende Handelsform.

Wie grundlegend, zeigt nun eine aktuelle Studie des Forschungsinstituts Copenhagen Economics, die WELT exklusiv vorliegt. Im Auftrag des Bundesverbandes E-Commerce und Versandhandel (BEVH) haben die Experten erstmals berechnet, welches ökonomische Gewicht der Onlinehandel hat – und zwar konkret am Beispiel des Standorts Deutschland.

Das Ergebnis: Die Branche steht hierzulande mittlerweile für eine Wertschöpfung von rund 100 Milliarden Euro und damit für allein 2,9 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das ist eine Größenordnung auf Augenhöhe mit beispielsweise der Kultur- und Kreativwirtschaft.

„Wir sind nicht der Totengräber der Innenstädte“
Beschäftigt werden dabei laut Untersuchung rund 1,26 Millionen Mitarbeiter, das seien praktisch genauso viele wie in der Automobilindustrie und damit in der deutschen Schlüsselbranche schlechthin. Zum Vergleich: Deren BIP-Beitrag liegt bei rund 4,9 Prozent.

„Bislang konnten wir nie sagen, wie wichtig unsere Branche ist – jetzt schon“, sagt BEVH-Präsident Gero Furchheim, der sich daraus folgend mehr Anerkennung und Respekt für den Onlinehandel wünscht und erhofft, allen voran aus der Politik.

Furchheim spielt damit unter anderem auf Diskussionen um sterbende Stadtzentren und die nur wenige Wochen alte Politikidee einer Paketsteuer zulasten von Versendern an. „Wir sind nicht der Totengräber der Innenstädte“, wehrt sich der Unternehmer, der im Hauptberuf den mittelständischen Möbelversender Cairo führt.

„Im Gegenteil: Online ist gerade für kleine und mittelgroße Anbieter, die seit Jahren aufgrund hoher Mieten, unzureichender Verkehrskonzepte und Einschränkungen bei den Öffnungszeiten aus den Innenstädten vertrieben werden, eine riesige Chance.“ E-Commerce sei daher nicht das Problem, sondern Teil der Lösung.

Und tatsächlich berichtet Copenhagen Economics, dass unter den deutschen Unternehmen, die sowohl online als auch stationär verkaufen, die kleineren fast 30 Prozent ihres Umsatzes über Webshops und Apps einnehmen. Dieser Wert liege immerhin zehn Prozentpunkte höher als bei größeren Anbietern.
Aber auch Verkäufe von Herstellern direkt an Verbraucher seien leichter möglich. „Das revolutioniert den Vertrieb von Waren“, heißt es in der Untersuchung, und steigere die sogenannte Konsumentenwohlfahrt. „Es gibt mehr Auswahl und Macht für den Verbraucher“, fasst Furchheim zusammen.
Und das verbessere auch die Lebensbedingungen im ländlichen Raum, wo die Auswahl an Geschäften ja wesentlich kleiner sei als in den Ballungsgebieten. Gleichzeitig fließe viel Geld in strukturschwache Regionen, etwa in den Ausbau der Lieferlogistik.

Dass der E-Commerce dennoch vielfach als Bedrohung wahrgenommen wird, wundert auch Gerrit Heinemann. „Die Politik hat das Thema Digitalisierung offenbar noch immer nicht richtig verstanden“, sagt der Professor für Betriebswirtschaftslehre, Management und Handel der Hochschule Niederrhein.
Es werde an romantisierten Vorstellungen von Innenstädten festgehalten, die es so aber nie wieder geben wird. „Die Menschen kehren nicht in großen Massen auf die Einkaufsstraßen zurück“, prognostiziert Heinemann, für den der Onlinehandel längst eine systemrelevante Funktion hat. Der Wissenschaftler verweist dabei nicht zuletzt auf die Corona-Krise.

„In der Pandemie hat der E-Commerce den Konsum gerettet und vielerorts die Versorgung überhaupt erst sichergestellt.“ Scheinbar herrsche aber noch immer ein völlig falsches Bild von der Branche.

„Da wird offenbar immer nur an das Feindbild Amazon und andere Onlineriesen gedacht“, vermutet Heinemann. Dabei sei die Branche so viel breiter aufgestellt. „Es gibt Dutzende Hidden Champions in Deutschland, die hochprofitabel arbeiten und dabei stetig wachsen und viele Arbeitsplätze schaffen.“
Im Kopf hat Heinemann dabei unter anderem Anbieter wie Kartenmacherei, Gartenmöbel.de, Rose Bikes, DeinSchrank.de oder auch den Musikalienhändler Thomann. „Das sind marktführende Portale, die komplett unterschätzt werden.“

Und das sei nur das Endverbrauchergeschäft. „Der Onlinehandel zwischen Unternehmen ist noch mal um ein Vielfaches größer, wird dabei aber nahezu gar nicht wahrgenommen von der Politik“, wundert sich Heinemann.

Tatsächlich lag das Verhältnis im Jahr 2019 bei fast vier zu eins. Konkret standen hierzulande E-Commerce-Umsätze in Höhe von 99 Milliarden Euro bei Geschäften mit privaten Haushalten sogenannte B-to-B-Erlöse im Firmenkundengeschäft in Höhe von 369 Milliarden Euro gegenüber.

Und da sind Bestellungen via EDI, also elektronischem Datenaustausch, sowie von Einkaufs- und Beschaffungssystemen noch gar nicht erfasst. „Es geht vielmehr um wirklich vergleichbare Prozesse, also Bestellungen von Unternehmen in Onlineshops und auf Onlinemarktplätzen“, sagt Verbandspräsident Furchheim.

Er nennt als Beispiele die Plattformen XOM Materials, auf der Stahl und andere Metalle gehandelt werden, oder aber Mercateo mit rund 25 Millionen Artikeln aus zahlreichen Branchen und Produktgruppen. Konzerne wie Bosch oder der Schrauben- und Werkzeughändler Würth kommen auf milliardenschwere Onlineanteile.

Branchenvertreter Furchheim fordert von der Politik nun Rahmenbedingungen, die einen fairen Wettbewerb ermöglichen, statt immer neuer Auflagen und einer permanent aufgezwungenen Verteidigungshaltung. „Man will ja auch Industrie 4.0 in Deutschland haben und fördert die digitalgesteuerte Produktion. Warum sollen dann für den Handel andere Voraussetzungen gelten?“

Die Studie solle nun zu einer faktenbasierten und damit sachlicheren Diskussion beitragen. „Es ist an der Zeit, dass die Politik die reale Veränderung in der Wirtschaft akzeptiert und die Chancen von Wandel und Innovation positiv begleitet, statt auf Bewahren zu setzen“, sagt Furchheim.

„Verbraucher verlangen von Unternehmen, dass sie online sind“
Zumal die Lebensrealität längst eine andere sei. „Die Verbraucher verlangen zunehmend, dass Unternehmen online präsent sind, während immer mehr Start-ups ihr Geschäft direkt online gründen“, heißt es in der Studie.

Verwiesen wird dabei auf eine Umfrage, nach der 87 Prozent der deutschen Konsumenten mittlerweile erwarten, dass Unternehmen auch online verkaufen. Der Großteil des Geschäfts läuft dabei über Internetmarktplätze, Schätzungen zufolge stehen sie für allein die Hälfte der Umsätze im Endkundengeschäft.

Gemeint sind Plattformen, über die kleine Händler ihre Waren verkaufen können, darunter der Amazon Marketplace, aber auch Ebay und Etsy oder nationale Seiten wie Real und Conrad.